Informationen zum Weg 1 Tafel 3-1 Moderner Kirchbau in schwieriger Zeit-St. Ulrich
Übersichtskarte:Kulturwanderwege Markt Triefenstein
Kirche St. Ulrich, Rettersheim
Moderner Kirchenbau in schwieriger Zeit – St. Ulrich
Als am 4. Juli 1926 der Würzburger Bischof Matthias Ehrenfried die Kirche St. Ulrich einweihte, erfüllte sich ein lang gehegter Wunsch der Rettersheimer Gläubigen nach einem eigenen Gotteshaus. Seit Anfang des 17. Jahrhunderts waren sie zu Gottesdienst und Andacht immer nach Trennfeld gegangen, zuvor in die Triefensteiner Leutkirche. Nach den Plänen des Aschaffenburger Architekts Otto Valentin Leitolf erfolgte im November 1923 die Grundsteinlegung – in einer Zeit, als beispielsweise ein Pfund Butter 3,2 Billionen Mark kostete. Viele helfende Hände ließen einen expressionistischen Kirchenbau entstehen, der durch seinen einheitlichen Gesamteindruck besticht.
St. Ulrich Kunsthistorisch
Klarheit der Form – die St. Ulrich Kirche aus kunsthistorischer Sicht
Wer von Westen aus auf die St. Ulrich Kirche in Rettersheim zugeht, den beeindruckt zunächst der markante, klar gegliederte Turm, der dem Kirchenschiff vorgelagert ist.
Mit dem viergeschossigen Fassadenturm hat der Architekt und Leiter der Aschaffenburger Meisterschule für Bauhandwerker, Otto Valentin Leitolf, der ersten Kirche des Ortes den deutlichsten Akzent gesetzt.
Die zweite wichtige Beobachtung ist das homogene Gesamtbild der Saalkirche mit einem eingezogenen gerade geschlossenen Chor. Letzteren flankieren seitliche Anbauten (ursprünglich zwei Sakristeien), die mit Pultdächern an den Chor angeschlossen sind.
In erster Linie ergibt sich der einheitliche Gesamteindruck dadurch, daß ausschließlich heimischer unverputzter Rotsandstein verwandt wurde.
Drei Gründe lassen sich hierfür anführen: Zum einen entsprach die Auswahl der Baustoffe der Tradition fränkischer Dorfkirchen. Auch der gestaffelte Baukörper folgt dem Typus einer einfachen Landkirche. Zum anderen könnte sie Ausdruck der expressionistischen Grundhaltung des Baumeisters Leitolf gewesen sein. Der Kunststil Expressionismus erlebte seine Blüte etwa in den Jahren 1910 bis 1925. Mit Sicherheit hat nicht zuletzt auch die Not der Zeit die Werkstoffe diktiert. Denn dabei handelte es sich um Spenden aus nahegelegen Steinbrüchen, während das Holz von den umliegenden Gemeinden geliefert wurde.
Der massig wirkende Fassadenturm ist gekrönt von einem Satteldach, das traufseitig ausgerichtet ist. Darunter befinden sich die spitzbogig gehaltenen Schallarkaden – vier auf der Schauseite, jeweils zwei an der Nord-, Süd und Ostseite. Die darunterliegenden Geschosse werden durch mehr oder weniger ausgeprägte Gesimse (das mittlere ist in Schachbrettornamentik ausgebildet) gegliedert.
Die schmalen Fenster im dritten Geschoß erinnern an mittelalterliche Wehrkirchen.
Plump und geradezu klotzig wirkt das Hauptportal durch seine schmucklos rechtwinklige Gestaltung mit dem von Quadern getragenen Portaldach. Über dem Portal steht der Bibelvers in goldenen Lettern: „Kommt her zu mir all, die ihr mühselig und beladen seid“.
Als oberer Abschluß des Portals dient wiederum ein Schachbrettfries, auf dem die Weltkugel (früher Reichsapfel) mit Kreuz aufgesetzt ist. Hier demonstriert sich der universale Geltungsanspruch der christlichen Kirche. Von allen Bestandteilen der Kirche erinnert das Portal noch am ehesten an den Geist der Gründerzeit in den letzten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts.
Als moderne Elemente verzieren Dreiecks- und Rautenfenster die Schauseiten des vierachsigen Kirchenschiffes und des Turmes. Sie befinden sich genau dort, wo ansonsten Rosetten zu erwarten wären und variieren die Fenstergestaltung, bei der sonst die spitzbogige gotische Form vorherrscht.
Als hell, weit, freundlich und offen erleben Besucher den Innenraum der Saalkirche. Der Raumeindruck wird erzielt durch den in spitzbogigem Tonnengewölbe ausgeführten offenen Dachstuhl mit freiliegendem, zum Teil profilierten Sprengwerk. Dabei ruhen die Strebebogen auf gleichfalls profilierten Sandsteinkonsolen, die den Schub des Gewölbes auf die außen sichtbaren Strebepfeiler ableiten. Im Rahmen der Renovierung der Kirche 1972 wurde das Tonnengewölbe mit Holz verschalt und das Strebewerk weiß gefaßt.
Das in Weiß gehaltene Schiff öffnet sich sowohl zum Eingangsbereich als auch zum Chor hin in weiten Spitzbögen. Ursprünglich unterteilte im Eingangsbereich eine halbkreisförmige Empore den Spitzbogen. Sie wurde später durch die heutige gerade Empore ersetzt, die die gesamte Breite des Kirchenschiffes einnimmt und sich weniger gut in das Raumgefüge des Tonnengewölbes einpaßt.
Im Schiff findet sich eine Kreuzwegdarstellung auf zwölf Gipsreliefs in expressionistischem Figurenstil. Der Beichtstuhl auf der linken Seite der Vorderwand ist originär, während der zweite, gegenüber stehende Beichtstuhl eine spätere Erwerbung ist.
Die deutlichsten Veränderungen hat im Laufe der Jahre der Chorraum erfahren, der durch zwei Stufen vom Schiff abgesetzt ist. Heute sehen wir dort eine Kreuzigungsgruppe mit Maria zur Linken und Johannes dem Evangelisten zur Rechten des Christus. Die in neugotischem Stil unprätentiös ausgeführten, nahezu lebensgroßen Figuren wirken eher gedrungen. Ursprünglich stand der Patron der Kirche, der heilige Ulrich, Bischof von Augsburg, im Mittelpunkt einer Wandmalerei an der Rückwand des Chores. Diese Malerei wurde vom dem Aschaffenburger Maler Follmer angebracht. Im neugotischen Stil gehalten, erinnerten die Figuren deutlich an mittelalterliche Buchmalerei.
Im Mittelpunkt zu sehen war überlebensgroß der heilige Ulrich, dargestellt mit Mitra, Bischofsstab, Albus, Pluviale, Pallium und einem Fisch – seinem Heiligenattribut. Der Legende nach wurde ein Stück Fleisch von der Tafel Ulrichs in einen Fisch verwandelt, als ein Feind versuchte, den Bischof fälschlich des Verstoßes gegen Fastengebote zu bezichtigen.
Zur Rechten des Heiligen abgebildet war St. Afra, eine Heilige, die gleichfalls in Augsburg verehrt wird. Sie soll zu Zeiten des römischen Kaisers Diokletian (284-305) den Märtyrertod erlitten haben. In Anspielung auf ihren Tod wird sie im Kessel mit siedendem Wasser dargestellt.
Ulrich zu Füßen standen zwei Personengruppen, zwei Männer zur Rechten, zwei Männer und eine Frau zur Linken. Sie weisen auf Legenden und Begebenheiten aus dem Leben des Heiligen hin. Auf der unteren Ebene des Wandgemäldes standen zur Linken St. Paulus mit dem Baum als Heiligenattribut und St.Petrus mit den Schlüsseln als Zeichen der päpstlichen Binde- und Lösegewalt. Hier ist der enge Bezug Rettersheims zum Kloster Triefenstein dargestellt. Rechts war der Reiterheilige St. Georg abgebildet, der die Verbindung zur Trennfelder Mutterpfarrei herstellt. Seine Lanze und der Baum des Paulus rahmten die Malerei ein.
Neu angefertigt wurden in den siebziger Jahren sowohl der Haupt- und die beiden Nebenaltäre aus Sandstein als auch der Ambo, der die ursprünglich vorhandene Kanzel ersetzt. Sie war aus Sandstein gefertigt und trug die Abbildungen der vier Evangelisten. Die Seitenaltäre, jeweils mit neugotischen Skulpturen geschmückt, sind St. Maria und St.Josef geweiht. Der Hauptaltar, ursprünglich als Hochaltar mit Tabernakelaufbau ausgeführt, enthält Reliquien der Heiligen Clemes und Eugen.
Neu sind auch das bronzene Taufbecken und die Figur des heiligen Ulrich. Letztere datiert aus den 80er Jahren, wurde in Anlehnung an den gotischen Stil aus farbig gefaßtem Gips gefertigt und steht auf einer Marmorkonsole. Neben dieser Skulptur ist ein Wandleuchter in barocker, an Ohrmuscheln erinnernder Ornamentik befestigt, ein Stück, das aus dem sonstigen Inventar der Kirche herausfällt.
Der Modernisierung zum Opfer gefallen ist die Kommunionbank.
Insgesamt besticht die Ulrichskirche durch ihre harmonische und stimmige Ausgestaltung und hat bei allen Veränderungen und Wechselfällen der Jahre ihren ursprünglichen, klaren Charakter beibehalten. Es bleibt zu wünschen, daß sich spätere Generationen diesem Erbe verpflichtet wissen.
Fotos:
– Foto von Kirche kurz nach der Fertigstellung, Chronik Rettersheim, S. 188, S. 200 (Quelle: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Nachlass Leitolf; Foto zum Einscannen vorhanden)
– alte Innenansicht, Chronik Rettersheim, S. 196 (Quelle: Ansgar Navratil; Foto elektronisch vorhanden „Kleine Tafel 5 – St. Ulrich Chorgemälde)